Psalmlieder

Psalmgesänge heute

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Sydney Opera House

Wir werden die zurzeit gültigen Liederbücher der beiden großen Kirchen, nämlich die Ausgabe „Gotteslob – Katholisches Gebet- und Gesangbuch“ (GGB) von 1975 und das „Evangelische Gesangbuch“ (EG) von 1993 auf Psalmgesänge hin untersuchen. Das Ergebnis wird tabellarisch dargestellt, was raschen Überblick und den direkten Vergleich ermöglicht. Doch sollten zunächst die unter dem Oberbegriff Psalmgesänge aufgeführten Liedtypen definiert werden, um die Tabellenfelder eindeutig zuordnen bzw. abgrenzen zu können.

Psalmgesänge heute - Psalmlieder, Psalmspruchlieder, psalmodierende Gesänge und Psalmkanons in der deutschen Gottesdienst- und Kirchenchorpraxis

Ein Psalmlied könnte auch als Psalmhymnus bezeichnet werden. Dessen Psalmtext wurde in ein Gedicht überführt, ist also metrisch gefasst, gereimt und strophig. Die Melodie entwickelt sich frei im Sinne einer Hymne, vergleichbar den vielgestaltigen Nationalhymnen. Auch sie in der Regel sind Strophenlieder. Psalmlieder von Martin Luther werden in der nachfolgenden Tabelle gesondert geführt, um ihn als den vorbildhaften Schöpfer des Psalmlied-Typus herauszustellen. Bei den Gesängen des Genfer Psalters handelt es sich demgemäß ebenfalls um Psalmlieder.

Psalmodie oder psalmodierende Gesänge verwenden den Psalmtext, wie er aus der Bibel kommt. Charakteristisch ist, dass auf einem bestimmten Rezitationston mehr oder weniger viel Text gesungen wird. Das Rezitationston-Prinzip schließt die Melodiebildung aus. Vorbild dieses syllabisch-sprechnahen Typus ist die gregorianische Psalmodie, wie sie in der Abhandlung „Psalmen – Dichtung und Musik mit überzeitlicher Tradition“ näher beschrieben ist.

Psalmkanons sind aus sich selbst heraus mehrstimmig, weil durch sukzessive Imitation bestimmt; da Text und Melodie sozusagen um sich selbst kreisen, wird relativ wenig Wort- und Melodiesubstanz benötigt, in der Regel ein einziger markanter Psalmvers. Man könnte auch von einem Merkvers-Kanon sprechen, zumal Wortaussagen bereits innerhalb eines Psalmdurchlaufs wiederkehren können, doch melodisch von Mal zu Mal variiert. Im Prinzip singt jede Stimme das Gleiche, allerdings zeitlich versetzt und insofern imitatorisch.

Psalmspruchlieder verwenden einen oder zwei Psalmverse, die eine geschlossene Aussage bilden. Da Verse oder Versteile direkt wiederholt werden, ergibt sich Gedächtnisvertiefung. Die Textsubstanz entspricht im Prinzip den Psalmkanons. Die Melodie kann sich zwar frei entwickeln, verbleibt jedoch in der Regel in engem Tonumfang. Bei häufiger Wiederholung eines Psalmspruchlieds in ein- oder mehrstimmiger Form kann sich eine meditative oder kontemplative Wirkung einstellen.. Musterbeispiel: „Laudate omnes Gentes – Lobsingt ihr Völker alle“ von Jacques Berthier (Taizé-Lied).

Im Dezember 2013 wird ein neues katholisches Gesangbuch erscheinen, ebenfalls unter dem Motto-Titel „Gotteslob“; zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Abhandlung konnte das „neue Gotteslob“, wie es inoffiziell genannt wird, noch nicht berücksichtigt werden.

Nun zur tabellarischen Darstellung des Untersuchungsergebnisses:

Tabellarische Darstellung

Position Liedkategorien GGB EG
1 Psalmlieder von Martin Luther – die Vorbilder 1 5
2 Psalmlieder im Sinne der lutherischen Vorgaben 20 60
3 Lieder aus dem Genfer Psalter bzw. Lieder dieses Stils 9 15
4 Psalmodie-Gesänge mit Psalmtexten 76 6
5 Psalmkanons 6 10
6 Psalmspruchlieder 0 5

Im Folgenden werden kurze Erläuterungen zu den Liedkategorien der Tabelle gegeben. Unter den angegebenen Links werden weitergehende Ausführungen angeboten. Dort können auch die GGB-Liednummern und der jeweilige Bezugspsalm entnommen werden.

Zu Position 1

Das GGB enthält mit „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ ein Luther-Psalmlied mit Vorbildcharakter. Allerdings wurde der Text teilweise bearbeitet; Näheres im Anhang. Dass die Kategorie Psalmlieder im GGB auch im Übrigen nicht so gut vertreten ist wie im EG (vgl. Position 2), mag daran erinnern, dass Psalmlieder im Sinne Luthers auf dem Boden der Reformation entstanden sind. Zur tabellarischen Darstellung

Zu Position 2

Die 20 Psalmlieder im GGB erscheinen im Verhältnis zu den 60 im EG wenig, was aber in dem Zusammenhang zu sehen ist, dass der Psalmgesang im Katholizismus seinen permanent-traditionellen Schwerpunkt im psalmodierenden Stil hat. Allein diese Kopflastigkeit wirkt verdrängerisch auf andere Gesangstypen; denn im Gottesdienst benutzte Gesangbücher müssen handlich bleiben. Das begrenzt alle anderen Kategorien. Sofern Psalmlieder aus evangelischen Gesangbüchern übernommen wurden, hat man sie in vielen Fällen für den katholischen Rahmen bearbeitet; wenn sich etwa Aussagen zur Rechtfertigung ergeben, kann das für den katholischen Rahmen nicht einfach übernommen werden. Zur tabellarischen Darstellung

Zu Position 3

Wie oben angedeutet, handelt es sich auch bei den Gesängen des Genfer Psalters um Psalmlieder. Sie waren für lange Zeit das ausschließliche Liedgut der „Reformierten“ calvinistischer Prägung. Bemerkenswert für die katholische Seite ist die Offenheit zur Assimilation auch dieses reformatorischen Liedguts. Sie könnte daher rühren, dass der von Calvin gewünschte Liedstil der ausdrucksbezogen objektiven Gregorianik-Hymnodie näher steht als der textgezeugte Ausdrucks-Subjektivismus Lutherscher Prägung. – Unter den 15 Liedern sind auch solche miterfasst, die stilistisch mit dem Genfer Psalter identisch sind; doch sei angemerkt, dass es weitere gibt, die dem nahe kommen, doch nicht unter den 15 erfasst wurden. Im Einzelnen ist das nicht leicht zu entscheiden. Auf jeden Fall wird deutlich, dass der Genfer Psalter im EG noch höhere Akzeptanz zuzukommen scheint als im GGB Das ist insofern nicht verwunderlich, als die lutherisch und die calvinistisch Reformierten einander näher stehen als jede dieser beiden dem Katholizismus. Zur tabellarischen Darstellung

Zu Position 4

Der gravierende Überhang der psalmodischen Gesänge im GGB erklärt sich aus der reichen gregorianischen Psalmodie-Tradition. Es gibt zahlreiche weitere Psalmodien, die aber nicht erkennbar mit Psalmtexten verbunden sind. Umso mehr drückt sich die Nähe zu der großen Tradition des Psalmodierens als einem typisch altkirchlichen Stil aus. Gerade deshalb wurde das rezitativisch-sprechnahe Psalmodieren von den Protestanten als typisch katholisch empfunden und blieb daher lange Zeit außen vor. Im EKG 1950 gab es ein einziges Psalmodie-Beispiel, im EG 1993 deren sechs. Ob dahinter eine längerfristig angelegte Absicht zu ökumenischer Angleichung steht, werden künftige evangelische Gesangbuchausgaben erweisen. Zur tabellarischen Darstellung

Zu Position 5

Kanons sind in Kirchengesangbüchern eine junge Gattung. Es scheint, als würde das gewaltige Psalmodie-Kontingent im GGB auch das Quantum der Psalmkanons begrenzen. Nicht alle Kanons im GGB und EG basieren auf Psalmversen. Was wohl das Ende 2013 erscheinende, neue katholische Gesangbuch – man spricht vom „Neuen Gotteslob“ – an Kanons und besonders an Psalmkanons zur Verfügung stellen wird? Zur tabellarischen Darstellung Zur Tabellarischen Darstellung

Zu Position 6

Psalmspruchlieder finden sich im GGB nicht. In das EG wurden zwei aus katholischer Feder stammende Titel aufgenommen, die sich beide auf Ps 117,1 beziehen, nämlich Nr. 181,6 „Laudate omnes gentes – Lobsinget, ihr Völker alle“ (1978) und Nr. 596 „Laudate Dominum – Lobt Gott und preiset ihn“ (1980). Besonders das erste hatte weltweit durchschlagenden Erfolg. Diese und weiter Taizé-Lieder werden im „Neuen Gotteslob“ nicht fehlen. Zur tabellarischen Darstellung

Zusammenfassung

Im Ganzen gesehen, bieten GGB und EG ein beachtliches Psalmenrepertoire. Wenn wir die Positionen 1-6 überschauen, ergeben sich gute Möglichkeiten, Gottesdienste psalmenbezogen zu gestalten oder zu umrahmen. Angesichts dessen frage ich mich, wie der Psalm-Kenner Dietrich Bonhoeffer zu den Liederangeboten der beiden daraufhin untersuchten Gesangbücher Stellung genommen hätte. Er ist wärmstens für die Psalmen eingetreten. Das wollen wir seinem zurzeit in 19. Auflage erhältlichen Psalmen-Büchlein (Ersterscheinung 1940) entnehmen. In dem Kapitel „Der Gottesdienst und die Psalmen“ steht u.a. zu lesen:

„In vielen Kirchen werden sonntäglich und sogar täglich Psalmen im Wechsel gelesen und gesungen. Diese Kirchen haben sich einen unermesslichen Reichtum bewahrt, denn nur im täglichen Gebrauch wächst man in jenes göttliche Gebetbuch hinein ... In der alten Kirche war es nichts Ungewöhnliches, ‚den ganzen David’ auswendig zu können. In einer orientalischen Kirche war dies Voraussetzung für das kirchliche Amt. Der Kirchenvater Hieronymus erzählt, dass man zu seiner Zeit in Feldern und Gärten singen hörte. Der Psalter erfüllte das Leben der jungen Christenheit. Wichtiger als dies alles aber ist, dass Jesus mit Worten der Psalmen auf den Lippen am Kreuz gestorben ist.“

Das genannte Kapitel endet mit der schwerwiegenden Aussage:

„Mit dem Psalter geht einer christlichen Gemeinde ein unvergleichlicher Schatz verloren, und mit seiner Wiedergewinnung werden ungeahnte Kräfte in sie eingehen.“ [1]

Dieses Zitat führt direkt zu dem Pfarrer, Dichter und Professor Helmut Lamparter (ebenfalls ein hervorragender Kenner der Psalmen): Er leitete das Vorwort zu seinem 1962 erschienen Gedichtband „Wecken will ich das Morgenrot – ein Psalter“ mit der selbigen Aussage Bonhoeffers ein, während er dieselbe am Ende des Vorworts zu seinem 1958 in erster Auflage erschienen Psalmen-Kommentar platzierte. [2] Auf die Psalmdichtung Lamparters werden wir im Folgekapitel eingehen.

Quellen und weiterführende Literatur

[1] Dietrich Bonhoeffer: Die Psalmen. Das Gebetbuch der Bibel“, Bad Saluflen 2013 (19. Auflage).
[2] Helmut Lamparter: Das Buch der Psalmen (2 Bände), erschienen in der Kommentar-Reihe „Die Botschaft des Alten Testaments“, Calwer Verlag Stuttgart; 35 Bände.